Nach unser erfolgreich absolvierten Inselrundfahrt Mallorca 312 dieses Jahres und dem ersten Gerstensaft nach monatelanger Zurückhaltung hatte uns der Höhenrausch des Tramuntana-Gebirges noch immer ergriffen, und so wurden Überlegungen angestellt, was man noch Verrücktes in 2015 fahren könnte?
Ich erzählte Jens von meiner geplanten Teilnahme an einer Fahrt in die Provence zum Mont Ventoux. Gemeinsam mit Claudia, Daniel, Thomas, Jörg, Jochen und Jürgen, alle Personen beheimatet im Sauerland und Bergischen Land, sollte die Eroberung des Erbarmungslosen per Rad im September 2015 erfolgen.
Treten, fluchen, schwitzen: Der Mont Ventoux ist für die Tour-de-France-Profis wie für die Hobbyfahrer eine Herausforderung, für die sie viel leiden müssen. Das ist es! Genau das Richtige für zwei verrückte Kattenberger, dachten wir uns. Meine Freistellung von Zuhause für dieses Vorhaben lag bereits vor. Nur Jens brauchte noch etwas Zeit, um seine Liebste von der Notwendigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen – ‚last but no least‘ – der Charmeur erhielt auch die Freigabe dafür. An dieser Stelle von mir ein Dankeschön an Brigitte, die Gattin von Jens.
Am 17.09.15 um 19:10 Uhr nach einem intensiven Arbeitstag und der letzten Aufnahme von Kohlenhydraten in Form von Spaghetti Carbonara an diesem Tag, traten wir unsere Nonstop Autofahrt von Hamburg nach Entrechaux (1.480 km) an. Alle zwei Stunden haben wir einen Fahrerwechsel vorgenommen und auch jeweils eine weitere Tüte Haribo Colorado geöffnet. Am Freitagmorgen um 08:00 Uhr Ortszeit war es dann soweit – vor uns in der Ferne der französischen Voralpen sahen wir ihn endlich. In Morgendunst umhüllt, erhob sich der „Geant de la Provence“. Wir ließen ihn für das erste links liegen und fuhren zu unserer Pension in Entrechaux. Dort angekommen wurden wir eines besseren belehrt, dahingehend, dass wir erst ab 16:00 Uhr haben einchecken können. Die Zeit bis 16:00 Uhr haben wir mit einer Autofahrt zum Gipfel des Mont Ventoux, Frühstücken in Bèdoin, Nickerchen im Auto sowie einer Einrollrunde gegen Mittag verbringen können.
Vorausschauenderweise hatte ich mir bei GPSies.com einige empfohlene Tracks heruntergeladen. Einer dieser Tracks führte exakt an unserer Pension entlang und wurde von uns unter die Räder genommen. Es war ein 78 km langer Rundkurs mit 1.500 Höhenmeter von Entrechaux -> Brantes -> Eygaliers -> Propiac -> Mérindol-les-Oliviers -> Puymeras -> Vaison-la-Romaine -> Saint Marcellin-lès-Vaison und zurück nach Entrechaux. Bei traumhaften Wetter und 25 Grad Cel. sowie verkehrsarmen Nebenstrecken war diese Einrollrunde ein Hammer in wunderschöner Gegend, gepaart mit herrlichen Anblicken des Mont Ventoux von der Nordseite – fast zumindest. In der letzten Bergabfahrt zerriß es mir den Mantel des Hinterrads. Glücklicherweise konnte ich von Tempo 40 langsam herunterbremsen. Tja, was nun? Vier Schläuche hatten wir dabei, aber keinen Mantel. Da es bereits nach 16 Uhr war, hofften wir die Sauerländer telefonisch in der Pension zu erreichen, sofern sie denn schon angekommen waren. Wir hatten Glück. Daniel, mein Bekannter, ging ans Telefon und erzählte von den Vorbereitungen zu deren Einrollrunde. Nach Übermittlung unserer Standortkoordinaten aus dem Navi per SMS an Daniel, wurden wir ca. 1 1/2 Stunden später von der Gruppe der Sauerländer ausfindig gemacht. Im Gepäck ein neuer Mantel. Die Sauerländer Kollegen fuhren unsere Runde in umgekehrter Richtung weiter, Jens uns ich fuhren noch ca. 20 Kilometer bis zu unserer Pension. Dort eingecheckt wurde endlich geduscht und anschließend zu Abend gegessen.
Samstag, 19.09.2015 – unser Tag!
Den Planungen aus dem April folgend, hatten sich Jens uns meine Person für den „Cinglé“ angemeldet. Cinglé heißt übersetzt so viel wie „verrückt“ oder umgangssprachlich auch „bescheuert“, weil innerhalb eines Tages von den Orten Malaucène, Bèdoin und Sault jeweils einmal der Gipfel erreicht werden muss.
Südrampe von Bèdoin = 21,2 km / 1.599 Hm
Westrampe von Malaucène = 20,9 km / 1.576 Hm
Ostrampe von Sault = 26 km / 1.194 Hm
Morgens um 6:10 Uhr ertönte der Klingelton „Der perfekte Morgen“ meines Handys. Welch ein Sound. Kurz nach links geschaut, erhob sich auch Jens von der Matratze mit leichten Kissenfalten im Gesicht. Kaum wach, schob er sich einen ersten Powerbar in den Mund. Frühstück in der Pension gab es leider erst ab 9:00 Uhr. Daniel, unser Mitbewohner in dieser Drei-Mann-WG, strahlte uns an und verabschiedete uns am Gartentor beim Verlassen der Pension. Wir fuhren mit dem Rad von Entrechaux nach Malaucène (ca. 9 km) bei noch recht kühler Temperatur von +8 Grad Cel.
In Malaucène angekommen, führte unser Weg schnurstracks in die Brasserie „Sarl chez Soi“, um Croissants und Kaffee zu verspeisen sowie einen ersten Stempel in unsere Nachweiskarte setzen zu lassen.
Um 8:10 Uhr war es dann soweit – Bienvenue au Mont Ventoux!
Die Westrampe sollte erklommen werden. Erste Auffahrt von Malaucène. Nach 3 Kilometer war der kleinste Gang eingelegt und der Druck gegen den Schaltgriff ging ins Leere. Wie soll das denn die nächsten 63 Kilometer laufen, wenn da noch die steilen Abschnitte kommen?
Oben endlich angekommen – ein Traum! Fotos können es nicht zum Ausdruck bringen, wie es ist, dort oben zu stehen und die Landschaft rundherum zu sehen. Man muss es erleben.
Nach kurzem Aufenthalt und Umziehen der langen Klamotten sowie Eintragung des zweiten Stempels in unsere Nachweiskarte durch den „freundlichen“ Verkäufer des Souvenirshops auf dem Gipfel, stürzten wir uns in die 21 km lange Abfahrt nach Bèdoin. Eine schreckliche Abfahrt; Hunderte von Radfahrern nahmen die Strecke zum Aufstieg während wir runter fuhren. In jeder Kurve musste man damit rechnen, dass ein Auto einem entgegen kommt, welches einen Radfahrer überholt. Und es kam noch heftiger – ein Porschefahrer musste ein Auto überholen, das einen Radfahrer überholte und räumte Jens fast vom Rad ab. Jens musste notgedrungen eine Vollbremsung auf dem Seitenstreifen bei hohem Tempo in der Abfahrt riskieren. 30 cm sind auch für einen Weissmann halt zu wenig Platz. Letztendlich – Glück gehabt und alles ist gut verlaufen.
Endlich das Ortseingangsschild in Bèdoin erreicht, Jens verzichtete auf den sonst üblichen Ortschildsprint, ja, so etwas kommt tatsächlich vor, ich kann es bis heute noch nicht fassen, froren wir beide heftig und fragten uns anschließend, was ist schöner – die Auf- oder Abfahrt?
In Bèdoin kaufte ich erst einmal einen neuen Mantel, jenen ich ja noch Daniel nach den Geschehnissen des Vortages schuldete, und ließ unsere Nachweiskarten ein drittes Mal stempeln. Danach aßen wir jeder eine ordentliche Portion Spaghetti Carbonara als Kohlenhydratpumpe für den heftigsten Anstieg von Bèdoin zum Gipfel hinauf. Die Teilnehmer der Tour de France müssen diesen Anstieg fahren, wenn der Mont Ventoux Bestandteil der Streckenführung ist.
Ab in den zweiten Anstieg. Dieser hat es in sich! Er beginnt recht gemäßigt, dafür sind die Zwischenabschnitte umso heftiger. Von der Aussicht leider nicht viel zu sehen, da kein freier Blick auf die Landschaft durch die Bäume möglich ist. Dann der erste Kilometer-Stein mit 11% Durchschnittssteigung auf den kommenden Kilometer. Wann ist dieser Kilometer endlich um? Noch 100 m dann kommt erneut ein Stein und wieder die Angabe mit 11% Durchschnittssteigung auf den folgenden Kilometer. Halleluja! Und dieses ‚deja vu‘ kam noch das eine und andere Mal. Bei Steigungen um 8% hatte man das Gefühl es ist relativ flach. Wann kommt endlich das Chalet Reynard? Am Chalet Reynard (1.430 m über N.N.), die Vegetation nimmt hier rapide ab und später ist es nur noch kahl, sind es noch 6 verdammte Kilometer bis zum Gipfel.
Zu diesem Teilstück folgt später im Bericht noch weiteres.
Mein ohnehin lädiertes linke Knie schmerzte durch die Dauerbelastung (Leistungen bis zu 450 Watt wurden erreicht) und nervte obendrein. Es war geschafft! Der zweite Anstieg und vierte Stempel waren eingefahren. Der Verkäufer im Souvenirshop auf dem Gipfel unverändert „freundlich“.
Kurzes Umziehen auf Langarm-/Langbeinklamotten und hinein in die Abfahrt nach Sault.
Im Gegensatz zu der Abfahrt nach Bèdoin ist die nach Sault herrlich zu fahren. In Sault wollten wir erneut unsere Kohlenhydratespeicher auffüllen, jenes nicht möglich war, da wir außerhalb der landesüblichen Essenszeiten die Brasserie betraten. Also mussten unsere Reserven aus dem Rucksack herhalten.
Die Auffahrt von Sault auf den Mont Ventoux wird als die „Einfachste“ bezeichnet. Sault liegt schon relativ hoch auf 766 m ü.N.N., aber damit es nicht zu einfach ist, fährt man erst einmal wieder knapp 60 Höhenmeter runter. Dann beginnt die ca. 24 km lange Fahrt auf zum Gipfel, der auf 1911 m über den Meeresspiegel liegt. Dank Rückenwindunterstützung konnten Jens und ich die ersten 19 Kilometer bis zum Chalet Reynard ziemlich zügig abspulen. Auf den Abschnitten bis 4% konnten wir bei maximaler Reisegeschwindigkeit von 33 km/h viele andere Radfahrer hinter uns lassen. Wir zuvor erwähnt leider nur bis Chalet Reynard. Die letzten 5-6 Kilometer bis zum Gipfel hat der Mont Ventoux seinem Namen alle Ehre gemacht! Der Berg des Windes hat alles gegeben, ums uns bei Steigungen jenseits der 10% entweder frontal oder von der Seite vom Fahrrad zu pusten. Zwei- dreimalwäre es fast um uns geschehen. An dieser Stelle ein Dankeschön an Christian Herms für das Ausleihen seiner Laufräder an Jens. Hochprofilfelgen können am Mont Ventoux extrem gefährlich werden!
Schieben kam für uns nicht in Frage – wir reflektierten kurz unsere Gedanken: monatelange Vorbereitungen, Urlaub nehmen, einholen der Startgenehmigungen bei unseren Frauen, 13 Stunden Autofahrt und dann die letzten Kilometer schieben? Kommt nicht in die Tüte! Teilweise kam ich mir vor, wie bei einem Orkan an der Nordsee. Die Windböen bliesen uns den Staub und Steinabrieb mitten in die Gesichter. Die Temperatur kühlte auf +6 Grad Cel. um kurz vor 18 Uhr deutlich ab – angesichts von kurz-kurz bei der Auffahrt war mir fürchterlich kalt. Anhalten hätte zum sofortigen Aussetzen der Beinmuskulatur geführt, also weiter bis nach oben. Radler aus dem Niederlanden, Frankreich und Großbritannien waren zeitgleich mit uns auf der Strecke – jeder zweite bis dritte Fahrer schob mittlerweile sein Rad. Ich dachte mir, dass ich auch ein bisschen „cinglé“ bin, so etwas freiwillig zu machen. Na ja, aber es ist schon ein tolles Gefühl, wenn man es dann geschafft hat. Pünktlich zum Ladenschluss des Souvenirshops erhielten wir durch den „freundlichen“ Verkäufer unseren letzten Stempel in der Nachweiskarte. Geschafft!
Jens wartete wenige Minuten auf dem Gipfel auf mich, so dass wir nach meiner Ankunft uns direkt für die Abfahrt nach Malaucène warm anzogen. Es war mittlerweile bitterkalt und die Abfahrt runter nach Malaucène bei Geschwindigkeiten bis zu 70 km/h war alles andere als purer Genuss, wenn der Wind böig von der Seite in Rad bläst. Ich ließ die Abfahrt ruhig angehen, was bei Eishänden nicht wirklich einfach ist, bis die Vegetation wieder dichter wurde. Am Ende des Tages hatten wir knapp 160 Kilometer mit 5.000 Höhenmeter auf dem Radcomputer stehen.
Jens und ich waren die beiden Einzigen, die sich an den „Cinglé“ aus unserer Gruppe heran gewagt hatten. Abends wurde dann im örtlichen Restaurant in Entrechaux gemeinsam mit den Sauerländern köstlich gegessen und vom Erlebten berichtet.
Nun sind wir Zwei offizielle Mitglieder im Club der Verrückten – „Club des Cinglès du Mont-Ventoux“. Urkunden und Plaketten zieren unsere Trophähensammlungen.
Am Sonntag, 20.09.15, radelten wir gemeinsam mit den Sauerländern eine ruhige Tour in herrlicher Landschaft und genossen das eine oder andere Sportgetränk in den entsprechenden Etablissements. Aktive Regeneration war angesagt.
21.09.15 – Der letzte Tag (leider) brach an und die Sauerländer nahmen noch einmal die Auffahrt von Malaucène zum Gipfel des Mont Ventoux unter die Räder. Jens und ich hatten genug vom Mont Ventoux und entschieden uns für eine Tour durch die Schluchten von Nesque.
Wie sehenswert war denn die Tour? Traumhaft! Prädikat: sehr empfehlenswert!
Kann man eigentlich nicht beschreiben – muss man selbst erleben.
Zwischen dem Mont Ventoux und dem Vaucluse-Hochplateau erstreckt sich die reizvolle Schlucht der Nesque (Fluss). Eine kleine Landstraße zwischen Villes-sur-Auzon und Sault führt durch die Berglandschaft. Zu Beginn sind die Schluchten sanft, fast lieblich und dicht bewaldet. Je mehr Strecke man aber hinter sich lässt, desto schroffer und karger wird die Gegend. Man durchfährt beeindruckende Streckenabschnitte, hindurch durch kleine Tunnel und trifft immer wieder auf zahlreiche Haltepunkte, die einen traumhaften Blick auf die Schlucht ermöglichen. Es ist erstaunlich, welch’breite Schlucht der Fluss Nesque im Laufe der Zeit in das Kalkmassiv gegraben hat. Am Aussichtspunkt angekommen, biete sich dem Besucher ein grandioser Blick auf den gegenüberliegenden Felsen, den 872 m hohen Rocher du Cire, und in die 300 m tiefer gelegene Schlucht.
Nach 134 Tageskilometer ging es zurück in die Pension zum Duschen und zu den Vorbereitungen auf die Rückfahrt nach Hause. Wir entschieden uns erneut die Nacht mit dem Auto durchzufahren, wie wir es bei der Hinreise taten, und verabschiedeten uns bei den Sauerländern, jene morgens darauf abreisen wollten.
Die Rückfahrt hatte noch Überraschungen für uns beide parat. Fahrzeugkontrolle an der Mautstation durch den französischen Zoll – wir galten für einen Moment als Schlepperbande von Flüchtlingen, aufgewärmte Currywurst mit Pommes vom Vortag morgens um 6:00 Uhr – tolles und nahrhaftes Frühstück. Und dann der Stau. Vollsperrrung auf der A7 Höhe Kassel – das kann dauern. Ok – kann man nichts machen. Rückensitzlehnen runter und aktive Augenpflege betreiben. Plötzlich klopft es bei Jens am Fenster der Fahrerseite. Er schrak auf – Blick nach rechts – Heiner auch wieder wach und die Autos fahren. Blick nach vorne – alles frei!Wo ist der Stau? Blick in den Rückspiegel – ah, da ist der Stau also.
Wir waren nicht nur dabei sondern mittendrin.
Wir erlebten beeindruckende Tage in der reizvollen Region und haben eine einzigartige Atmosphäre genossen – auch Dank der Bereicherung durch die Sauerländer. Es wird unvergessen bleiben.
Die Provence wäre eine tolle Alternative zu Mallorca, wenn das Ziel einfacher und weniger zeitraubend zu erreichen wäre.
Mit sportlichem Gruß
Heiner K. & Jens
😎 verrückt .. und gut. Eindrucksvoller Bericht, hat mir sehr gefallen!
Vielen Dank für den spannenden Bericht. Jetzt hat der RSC-Kattenberg neben 3 Randonneuren (dt. Verwegene) 2 Cingles (dt. Verrückte). Meinen Glückwunsch zur hart erkämpften Bezwingung des Giganten ! Vielleicht kriegen wir das ja 2016 hin mit einem 5er Team mal fix nach Berlin zu fahren. Der Mythos vom „Kattenberg-Express“ erwacht wieder zum Leben…
Weiter so !
Gruß Jörg
Hallo Heiner,
schön geschrieben. Jetzt bekomme ich auch richtig „Lust“ auf den Cinglé….. 😯
Mal sehen, was als Nächstes kommt!
Gruß aus dem Sauerland
Daniel
Genau, Thomas, so ist es mir auch ergangen.
Die Gefühle beim Lesen wechselten zwischen Neid und Kopfschütteln 😉
Toller Bericht über ein offensichtlich ganz besonderes Radsport-Erlebnis.
Heiner, das ist ein ganz toller Bericht. Man kann die Besonderheiten und Anforderungen der Strecken, die du und Jens erfahren habt, förmlich miterleben. Thomas R